Inhaltsverzeichnis
Der Maschinenstürmer
Deep Fake: Blick nach vorn aus der Vergangenheit
2020 war die mir unbekannte Leserin Annette so freundlich, mich im Amazonen-Kosmos zu loben, genauer meinen Roman „Wal im Netz“, den zweiten der Sherman-und-Lyle-Krimis, mit der Einschränkung: „die Bilder, die der Autor hier entwirft, lassen einem (auch, weil das Buch schon 9 Jahre alt ist), das Lachen im Halse stecken bleiben.“
Lobende soll man zwar nicht korrigieren, eine Petitesse sei aber doch behoben: 2011 hatte ich die beiden Shermans selbst als ebooks neu herausgebracht, die Originale waren damals aber nicht 9 Jahre alt, sondern 25 – denn bei Goldmann waren „Sherman schwindelt“ und „Wal im Netz“ 1994/1996 erschienen. Was Annette das Lachen im Halse stecken ließen, hatte ich also schon etwas früher vorhergesehen und niedergeschrieben, 1994/96 als (Entertainment)-Prognose für 2030.
Der „Schwindel“ im Titel des ersten Romans um Sherman und Lyle war dabei absichtlich ambivalent, die Fülle der zu lösenden Fälle auf kurzer Seitenstrecke auch – denn in schwindelerregender Informationsflut braucht es ja einen Geist (hier: Cop), will man Unwesentliches von Wesentlichem trennen (hier: 5 Fälle auf einmal lösen). So ganz daneben lag ich jedenfalls nicht mit der Vorhersage der Jahrzehnte später (fast: heute) herrschenden Zustände in „New Hesperida“, der europäischen Megastadt: von Cyberterroristen bis Pizzadrohnen, von totenstillen e-Autos mit internem Maseratisound bis allgegenwärtig manipulierenden Zecken (Journalisten) als echte Pest, vom Trend zum untenrum freien Zoom-Office bis zu zensierender KI mit gutem Geschmack (die daher Bestsellerautoren sprengt). Flüchtlingswellen und die Bombardierung Nordafrikas kamen am Rande vor, mittendrin Nierendiebe und Game-Shows, in denen man alles verlieren kann. In Band 2, „Wal im Netz“, bildete indes den Hauptfall für die Herren S&L eine Oscargewinnerin, die entführt wird, aber überraschenderweise gar nicht existiert – außer auf Festplatten.
Auch Ältere werden sich kaum erinnern, dass damals DIE WOCHE unter Chefredakteur Manfred Bissinger auf Augenhöhe mit FOCUS und dem Platzhirsch SPIEGEL um Leser konkurrierte. Unter uns Autoren begehrtester Platz im Blatt war die Seite 3, das Porträt – in der Regel eben das des wichtigsten Menschen der Woche. Für die Millenium-Ausgabe bot man mir auch wegen meiner damals schon alten Romane diesen Porträt-Fläche an, ich habe sie gern ausgefüllt, mit einem Blick nach vorn, aus 2000 Richtung 2040 – wobei ich 2030 hinschreiben wollte, was die Redaktion das aber für übertrieben hielt: meine Vision werde, wenn überhaupt, frühestens 2040 wahr werden. Ich konnte mich damals nicht durchsetzen mit „2030“ :).
Gleich wie: ob meine Vorhersage hinkommt, dass wir es 2030 (oder eben 2040) mit US-Präsident Gates zu tun haben werden, hängt wohl vor allem von dessen Eitelkeit ab. Mit dem Rest der Vorhersage könnte ich mich um 2030 minus 3 Jahre vertan haben, aber, hey, ein bisschen Nachsicht bitte, meine Zeitmaschine hatte ich schon damals versehentlich in der Zukunft geparkt und musste daher improvisieren. Aus Gründen der Aktualität gestatte ich mir, den Originaltext hier noch einmal einzustellen. Eine Bewerbung als amtlich akkreditierter Visionär verbinde ich damit weiterhin nicht, schließlich existiere ich inzwischen selbst nur noch als Deep Fake.
Der Maschinenstürmer
(Die Woche, 22. 12. 2000)
„Wer die Wahrheit über die Maschinen sagt, stirbt durch die Maschinen. Victor Nielsen ist ein Märtyrer.“ Mit diesen Worten kommentierte am Sonntagabend Fundamentalistenführer Malcolm Z den Versuch von Victor Nielsen, Globalnet-Anchorman Tim Frog live on air den Kopf abzureißen. Nielsen hat also einen neuen Bewunderer. Und einen neuen Job, um den er sich nicht direkt beworben hat: als Märtyrer. Denn der Zweiunddreißigjährige, bis vor kurzem Europa-CEO der AvantStar-Agenturgruppe, hat sich mit seinen global kommunizierten Vorwürfen gegen die Mächtigen der internationalen Multimediabranche und zuletzt mit seinem tätlichen Angriff auf Tim Frog zum Maitre jener Gerüchteküche ernannt, die seit Jahren Bizarres und Abenteuerliches aus dem Umfeld der Gigastars Baby Donna und Thor Hart ventiliert.
Anders als Malcolm Z und seine maschinenstürmenden Terroristen ist Nielsen allerdings kein Neo-Romantiker oder Sektenführer, sondern ein konservativer Manager, der eine beeindruckende Karriere hinter sich hat; daß er keine mehr vor sich hat, dürfte allerdings ebenso sicher sein, spätestens seit Sonntag ist Nielsen in der gesamten nördlichen Welt Persona non grata. Irritierend bleibt indes die Vehemenz, mit der auch unabhängige Journalisten auf seine Behauptungen reagiert haben, die beliebtesten Stars der Popkultur einschließlich US-Präsident Gates, Bundeskanzler Welser und Papst Silvester III. seien lediglich virtuelle Wesen und der gesamte globale Management-Apparat inzwischen in der Hand von Cybergeschöpfen.
Seit seiner Flucht aus dem Studio ist Nielsen verschwunden. Weder seine Frau Mavis noch die zuständigen Behörden kennen seinen Aufenthaltsort, sein ID-Chip schweigt und die Personal-Data-Agenten der Geheimdienste messen keinerlei finanzielle Transaktionen mehr. Nach menschlichem Ermessen ist Victor Nielsen tot. Nach Einschätzung der Woche lebt er, denn wir haben ein Gespräch mit ihm führen können.*
Er sieht blass aus, die Augen wirken wie von innen beschlagen und die Abdeckung der Schnittstelle über dem linken Ohr ist abgerissen; der seit Monaten aus der Mode gekommene retro-japanische Ymon-Anzug beleidigt jedes kultivierte Auge, die Halfskin-Frisur ist derangiert. Zudem überträgt das blickfeld-zentrierte Hologramm Nielsen mit einer Verzögerung von mindestens drei Frames – bei jeder Kopfbewegung fühlt man sich zurückversetzt in schwindelerregende koreanische Cyber-Games aus der Vorkriegszeit.
Nielsen – sofern er es tatsächlich ist – geht es erkennbar schlecht. Aber kämpferisch ist er geblieben. „Frog existiert nicht“, behauptet er unverdrossen, obwohl die Bilder des Senders ihn widerlegen. „Baby Donna ist virtuell, Thor ist virtuell, und die gesamte CEO-Ebene von Avantstar auch. Aber das ist erst der Anfang. Ich sage nicht, daß die Dinger schon komplett autark sind, aber für die Basics, bis hin zum Stoffwechsel, brauchen die keinen Techniker mehr.“ Er fährt sich mit der Hand durch die langen Haare auf der rechten Kopfhälfte, als er müde fortfährt: „Lassen Sie sich nicht verschaukeln. Den Turing-Test bestehen die schon lange mit links. Die haben mehr Bewusstsein als Sie und ich zusammen. Aber sie existieren nicht wirklich. Keiner von denen ist je geboren worden.“
Behauptet wurde das schon häufiger. Allerdings noch nie von einem Insider wie Nielsen. Wobei auch dessen Arbeitgebern klar sein musste, dass ihr CEO nie ein unkritischer Zukunftsverherrlicher war. Oder hat niemand das Interview registriert, das letztes Jahr via BrandNet kommunziert wurde?
„In meinem Apartment“, so Nielsen damals, „finden sie nichts von dem, was mich in meinem Office umgibt. Ich habe kein McPet, mein Personal Digital Assistant ist bloß doppelt so intelligent wie ich, und außer meinem Nanohealth-Brotaufstrich zur Zellregeneration und gelegentlichen Happydrugs nehme ich keine Substanzen“. Dafür besitzt er eine stolze sechzig Bände umfassende Papierbibilothek und „nötigt“ seine Kinder dazu, sich abends von ihm vorlesen zu lassen – nicht von seinem PDA George, einem Sony PSYÔ, der neben dem vollständigen Bildungskanon auch alle Fremdsprachen und Dialekte sowie das Comedy-Repertoire des vergangenen Jahrhunderts beherrscht. „Mein zweiter Vater“, sagt Nielsen, „hatte eine schöne Stimme. Ich habe es geliebt, mir von ihm vorlesen zu lassen. Obwohl mein Nannybot weniger Fehler machte. Und mehr wusste, wenn ich Fragen hatte.“ Die Töchter seiner Frau finden die reale Vorleserei in eher „lästig“, Nielsens sechsjähriger Klon Stex hingegen teilt selbstredend die Ansichten des Vaters.
2018, unmittelbar nach dem Mittelmeer-Krieg und der Kontaminierung Südeuropas durch selbstreplizierende Nanoviren, sympathisierte der damals Zwanzigjährige mit der radikalen Bewegung Roboots des südafrikanischen Bill-Joy-Epigonen (und Philosophen) Max van Halden, wandte sich jedoch rasch realistischeren Zielen zu, nachdem er erkannt hatte, daß „der Mensch blind ist für Gefahren, wenn etwas seiner persönlichen Bequemlichkeit nützt“. Obwohl er skeptisch blieb, was die exponentiell wachsende Leistungsfähigkeit der Maschinen und ihren damit einhergehenden Einfluß auf die Gesellschaft betraf, profitierte er selbst gleich mehrmals von den Segnungen der Technik. 2019 diagnostizierte sein Body-Control-System bei ihm Leberkrebs, der gentechnisch erfolgreich behandelt werden konnte, einige Jahre später erkrankte er nach einem China-Aufenthalt schwer und mußte sich Audiolinsen und Videodisplays implantieren lassen, um Augenlicht und Gehör zu retten. Die erfolgreiche Operation veränderte Nielsens Ansichten nachhaltig. Er wechselte als Manager zu Mapmed, dem Marktführer für Neuronetze und massiv-parallele Rechenprozesse und übernahm schließlich die Firmentochter Artficial Artists, die erste europäische Agentur für virtuelle Künstler. Vier Jahre lang managte er überaus erfolgreich die Komponisten Marc Holgrove und Art Buckino sowie die Malerin Etzel Harberger, dann nahm er das Angebot von AvantStar an und widmete sich dort der Vermarktung von „echten“ Stars, also Menschen, genauer der Media-Gigastars Baby Donna und Thor Hart.
Die beiden haben ihm viel zu verdanken. Oder besser, hatten. Denn im Raum steht die Verleumdung ihres Managers, sie seien „Maschinen“. Der Schaden, den Nielsen mit dieser Aussage angerichtet hat, ist schwer abzuschätzen, die Klage seines Arbeitgebers und der beiden Stars beläuft sich auf 400 Milliarden Dollar. Das jetzt von einem Insider gestreute Gerücht könnte die Karrieren der beiden beenden, denn Menschen lieben eben vor allem Menschen – kein Kunstgeschöpf elektrisiert die Massen wie die echten Stars, ob Legende Leonardo DiCaprio, Haley Joel Osment oder Dorothy Minelli. Tim Frog, ebenfalls als Maschine denunziert, wird noch von Ärzten betreut und verweigert bislang jeden Kommentar zu Nielsens Vorwürfen. Die Bilder, die via Globalnet zur Verfügung stehen, zeigen deutlich, wie unser beliebtester Anchor sich nach dem Angriff den verrenkten Hals hält. Aber netzweit existieren hunderte anderer Versionen, und in etlichen ist zu sehen, dass Frogs Kopf einfach abbricht. Blut fließt nicht, bloß Säure. Fälschungen, so Globalnet. Verifizierbar ist nichts, wie üblich.
„Ganz gleich, wieviel sie manipulieren“, sagt Nielsen. „Die Wahrheit wird immer da sein, irgendwo. Aber die Wahrheit wird keine Konsequenzen haben.“ Denn selbst wenn sich zweifelsfrei beweisen ließe, so seine Argumentation, dass unsere größten Gigahelden tatsächlich bloß Virtuelle sind, würde das nichts ändern. Wir wären empört. Eine Weile. Aber wollten wir auf Baby Donna verzichten? Oder auf unseren PDA, selbst wenn irgendwer uns bewiese, dass unser George, Mark oder James unser Leben zwar nach seinem Gutdünken regelt – aber dafür besser, als wir selbst es je könnten? „Wir werden die Augen weiter fest geschlossen halten“, sagt Nielsen. „Wir stehen vor der Alternative: entweder wir lassen uns beherrschen, oder wir kehren zurück in die Steinzeit. Wir werden uns entscheiden, beherrscht zu werden. Weil sie schlauer sind als wir. Besser und größer. Und weil es bequem ist.“ Davon ist er offenbar schon lange überzeugt. Sein Vater, von dem er oft spricht, besaß ein altes UMTS-Handy. Er fluchte jeden Tag über die Maschine, die sich besser in seinen Angelegenheiten auskannte als er selbst. Als das Gerät eines Tages kaputtging, verlief Vater Nielsen sich – mangels Positioning System – in seiner Heimatstadt München. „Er fand es herrlich“, sagt sein Sohn mit einem schwachen Lächeln. „Aber er hatte schon am nächsten Morgen ein neues Handy.“
Die Verbindung endet abrupt, mit einem Pixelflackern, an das sich nur noch Besitzer von zehn Jahre alte Hirnschnittstellen erinnern. Ein erneuter Verbindungsaufbau erweist sich als unmöglich. Laut maschineller Auswertung der Daten beträgt die Wahrscheinlichkeit, daß wir tatsächlich mit dem echten, lebendigen Victor Nielsen gesprochen haben, 32,4 %. Die Wahrscheinlichkeit, daß Baby Donna ein Mensch ist, gibt das System mit 98% an. Haben wir irgendeinen Grund, daran zu zweifeln?
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Biographie: Victor Nielsen wurde am 7. Dezember 1998 als Sohn einer deutschen Designerin und eines indischen IT-Spezialisten in London geboren. Er wuchs bei seiner Mutter und deren Partnern in den USA, in Frankreich und in Deutschland auf. Von 2016 an studierte er in Paris und später in Berlin Nanotechnologie und war Assistent von Tom Fields, der das integrierte Body-Control-System „Sensoros“ entwickelte, das erstmals die komplette Überwachung aller Körperfunktionen erlaubte und die Grundlage für Microsofts MSI 20/20 werden sollte. Seit 2020 vertrat Nielsen als PR-Manager erfolgreich nichthumanoide Künstler ebenso wie menschliche Superstars und war maßgeblich beteiligt am „Jahrhundertvertrag“, der seinem Star Baby Donna 880 Millionen Ecu für die Hauptrolle im Multimediaspektakel „Der Krieg der Ringe“ garantiert. Nielsen ist verheiratet mit Mavis Bach und lebt mit ihren zwei Designtöchtern und seinem sechsjährigen Klon Stex in Berlin.
*Hinweis gemäß Richtlinie 3/18/C des deutschen Presserates: die nachfolgenden Zitate entbehren bis zur endgültigen Verifizierung durch mindestens 2 Mitglieder des Rates jeder rechtlichen Grundlage, da es sich um via Holo-Display übermittelte Informationen handelt.
P.S.: Aus ebenfalls aktuellem Anlaß, weiterführend, gesendet aus 2023 ergänzt von David Hain (BeHaind: Das ist die Zukunft des Kinos) https://www.youtube.com/watch?v=waEr082LhH4