Leseprobe

Die ganze Wahrheit über alles von Sven Böttcher

Die ganze Wahrheit über alles von Sven Böttcher und Mathias Bröckers

Die ganze wahrheit über alles :„Sogar heute ist es noch so, dass viele von uns (Alten) sich nicht nur diffus unwohl fühlen oder diffus depressiv – viele von uns bekommen trotz unserer allgegenwärtigen Hektik und Sorge noch immer gelegentlich klare Gedanken zu fassen, die sich unweigerlich regelrecht trotzig anfühlen. Gedanken wie: „Es kann doch nicht sein, dass wir Nahrungsmittel für 14 Milliarden Menschen herstellen – und dass trotzdem Menschen verhungern!“.

Gedanken wie: „Es kann doch nicht sein, dass wir die ganze Welt mit Waffen ausrüsten, obwohl keiner Krieg führen will!“, „Es kann doch nicht sein, dass hierzulande Altersarmut für viele droht, obwohl wir alles haben!“, „Es kann doch nicht sein, dass wir unseren Planeten bis zur Unbewohnbarkeit aufheizen!“, „Es kann doch keine Steueroasen geben!“ - Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.

Tatsächlich ist es so, dass viele von uns (Alten) in solchen Momenten immer noch aufbrechen, zumindest gedanklich, und diesen klaren und einfachen Gedanken nachgehen. Also von dieser schlichten Eingangsfeststellung „Das geht so nicht, das kann nicht sein“ förmlich hinabsteigen in die tieferen Gründe, weshalb es eben doch so ist. Und hierbei erleben wir, mutig und klar gestartet, unweigerlich immer dasselbe.

Direkt unter der Oberfläche, direkt hinter der Eingangsfeststellung, erwarten uns Experten, bewaffnet mit Unmengen dicker Bücher und großkalibrigen Faktenarsenalen, die uns wortreich erklären, weshalb die Dinge zwingend sind, wie sie nun mal sind: weshalb Menschen verhungern, der Planet immer wärmer wird, wir Unmengen Waffen herstellen, unsere Alten von Almosen werden leben müssen etc. pp.

Und schaffen wir es tatsächlich, mit sturem Blick und Ohren zu, an diesen Fachkräften vorbeizukommen und noch etwas tiefer einzudringen in die Materie, erwartet uns spätestens drei Meter weiter unten eine wahrhaft beeindruckende Konstruktion - aus Drähten, Kabeln, Leuchtdioden und reichlich Sprengstoff.

Die ganze Wahrheit über alles Leseprobe 2

Sowie dem Warnschild: Keinen Schritt weiter, Explosionsgefahr! Denn hier, auf dieser gedachten Ebene kurz nach Passieren der Expertenschar für dies (Wirtschaft), das (Rüstung) oder jenes (Energie) erweist sich unsere Suche nach einer einfachen Antwort auf unsere einfache Frage plötzlich als lebensgefährlich. Weil nichts einfach ist. Sondern alles zusammenhängt.

So stehen wir also vor dieser beeindruckenden Sperre und studieren, noch immer nicht geschlagen, die bunten Kabelverbindungen: Wohlstand folgt aus Wachstum, Wachstum aus Kapitalismus, Kapitalismus braucht Wettbewerb, Wettbewerb braucht Verlierer, Verlierer hungern, Hungernde rebellieren, wenn man sie nicht mit Waffen zurückhält, Globalisierung bedeutet mehr Wohlstand für alle, ausreichend Nahrung lässt sich nur mit Hilfe des Kapitalismus erzeugen, ohne Kapitalismus kein Wachstum, ohne Wachstum keine Zukunft und keine Renten.

Es ist völlig egal, über welche klare Eingangsfrage wir an diesen Punkt hinabsteigen: Wir stehen immer wieder vor der gleichen Bombe, die uns beim Lösen auch nur eines einziges Drahtes sofort zu pulverisieren droht. Und Pulverisieren bedeutet in diesem Fall ganz konkret (sicherheitshalber steht´s auch noch kleingedruckt auf dem Warnschild): „Wenn Sie das hier anrühren, gehen bei Ihnen zu Hause die Lichter aus und die Heizung gleich mit, und es kommen auch keine Frachtschiffe mehr, sie werden also verhungern. Sofern sie nicht vorher im Bürgerkrieg zwischen Einheimischen, Ausländern und Asylanten erschossen werden.“

Die ganze Wahrheit über alles Leseprobe 3

Und so korrigieren wir unsere eingangs klare Feststellung, dass „das“ doch eigentlich gar nicht sein kann, wenden uns ab, überzeugt, dass es eben nicht geht. Jedenfalls nicht anders. Dass zwar zutrifft: „So geht es nicht weiter“, aber erst recht: „Es geht nicht anders“. Dass zutrifft: „Ohne Wachstum geht es nicht“ und ebenso zutrifft: „Mit Wachstum geht es nicht“. Dass zwar nichts richtig gut ist, aber alles doch immer noch besser als die Alternative.

Die Pulverisierung. Licht aus, Heizung aus, Bürgerkrieg. Wer würde bei einer solchen Ausgangslage irgendein Kabel aus einer Konstruktion ziehen, bei einer Chance von höchstens 1 zu 1000, nicht das falsche zu erwischen? Da gehen wir doch lieber auf Nummer Sicher. Unter.

So also machen wir weiter wie gehabt, sogar wir vielen, die unzufrieden und unglücklich sind. Immer weiter. Wir haben es doch versucht. Sind hinabgestiegen und tief in die Materie eingedrungen. Und haben gefunden: Es geht nicht anders. Die ganze wahrheit über alles.

Die ganze Wahrheit über alles Leseprobe 4

Das allerdings ist erstens nicht wahr und zweitens gefährlich, und nur deshalb gibt es dieses Buch. Denn die Bombe da unten ist eben nicht „unentschärfbar“, obendrein würde sie, selbst wenn wir die Drähte schlicht durchschlügen, eben nicht explodieren (weil sämtliche C4-Pakete in dieser Konstruktion bloß Knetgummi-Attrappen sind), und zuletzt kennen wir die Ratten, die diese Attrappe da hingebastelt haben: und können euch nicht nur versichern, sondern, besser, beweisen, dass die nur mit Wasser kochen (dabei aber durchaus Blut und Wasser schwitzen, wenn sie an euch denken).

Ein zweiter Aspekt ist aber ebenso wichtig. Und der betrifft die Eingänge. Denn diese Eingänge hinter unserer unweigerlich klaren Feststellung „Das kann nicht sein, das muss man doch besser machen können!“ tragen ja fast immer Namen, und diese Namen sind Ideen, meist schon vor langer Zeit in Stein gemeißelt – von Demokratie bis Entwicklungshilfe, Familie bis Freiheit, von Arbeit bis Rentenversicherung. Dummerweise haben aber andere so lange an eben diesen Ideen herumgebastelt und gemeißelt, dass heute niemand mehr erkennt, was ursprünglich gemeint war.

Deshalb dieses Buch – und deshalb die strenge Form, der scheinbar redundante, tatsächlich aber nur Klarheit schaffende Dreisatz aus „Was gemeint war/Was wir daraus gemacht haben/Was ihr daraus machen werdet“. Es geht eben nicht nur darum aufzuzeigen, was zu tun ist, es geht auch und vor allem um die zwei Schritte davor. Zunächst darum, die Originalideen zu restaurieren und wieder in ihrer ganzen Klarheit erstrahlen zu lassen, also Staub und Fälschungen zu entfernen, um im zweiten Schritt (Was wir daraus gemacht haben) aufzuzeigen, wo wir uns weshalb verirrt und in welche Richtung wir uns verlaufen haben.

Beide Schritte sind wichtig und hoffentlich erhellend für euch, denn ohne dieses Wissen stünde alles „Was ihr daraus machen werdet“ nicht einmal auf tönernen Füßen, sondern auf Treibsand.

Drum sei sicherheitshalber ausdrücklich klargestellt, vorweg, damit nie wieder andere euch in diesem Nebelkerzenland weismachen können, es habe an mangelhaften Ideen gelegen: Ihr ahnt ja gar nicht, wie gut die Ideen unserer Vorfahren und -denker waren! Und es ist wichtig, dass ihr das nicht nur ahnt, sondern wisst, damit ihr nicht alles „Alte“ in einen Topf werft und zukünftig ablehnt, als mitschuldig, als Teil der kaputten Welt am Vorabend der Revolution - die euch bevorsteht.

Die ganze Wahrheit über alles Leseprobe 5

Die ganze wahrheit über alles: Die Ideen gehören nicht auf den Müll oder den Scheiterhaufen; die Ideen waren gut und richtig. Wir haben Schindluder damit getrieben. Lasst euch nicht einreden, es habe an den Ideen gelegen, es lag nur an uns. Uns Deppen. Wir haben das verbockt. (Auf den Scheiterhaufen kommen wir im Nachwort zurück).

Zugegeben, wir sind ein bisschen spät dran mit diesem Eingeständnis, diesen Hinweisen. Vielleicht zu spät. Schließlich lassen wir euch zurück auf einem Minenfeld, die Zünder sind eingestellt auf Detonationszeitpunkte zwischen „Gleich“ und „in 20 Jahren“, und dummerweise liegen viele der auf „Gleich“ gestellten Minen verdammt nah bei den designierten Spätzündern. Aber man weiß ja nie. Vielleicht ist der Laden ja doch noch zu retten. So oder so. Vor dem Knall oder nach dem Knall.

Wir notieren das Nachfolge also: für beide Fälle.

Begeben wir uns daher kurz gemeinsam nach unten, zu dem Punkt, an dem wir grundsätzlich umkehren – der schrecklichen Bombe, die uns vor Angst schlottern und Reißaus nehmen lässt. Und lesen noch mal unsere Alptraum-Warnung auf dem gelben Schild mit schwarzem Rand:
„Wenn Sie das hier anrühren, gehen bei Ihnen zu Hause die Lichter aus und die Heizung gleich mit, und es kommen auch keine Frachtschiffe mehr, sie werden also verhungern.

Sofern sie nicht vorher im Bürgerkrieg zwischen Einheimischen, Ausländern und Asylanten erschossen werden.“
Ernsthaft? Licht und Heizung? Gehen aus? Weil alles zum Erliegen kommt?

Die ganze Wahrheit über alles Leseprobe 6

Licht und Heizung: bei uns zuhause? Echt? Nicht vergessen: Wir produzieren unseren ganzen Strom selbst. Was wir für unsere privaten Haushalte benötigen, produzieren wir sogar heute schon komplett aus erneuerbaren Quellen. Denkt das mal zu Ende. Und denkt nicht an die Industrie, wir reden hier von zuhause und einem temporären Worst Case inklusive Weltwirtschaftskrise da draußen.

Das private Licht bleibt trotzdem an, so oder so, unsere Windräder stehen nicht im nahen Osten. (Und die Heizung bleibt auch an, weil ihr ja neben euren Ölheizungen im Keller auch noch Kamine und Radiatoren besitzt. Ihr seid ja nicht blöd. Die ganze wahrheit über alles)

„Es kommen keine Frachtschiffe mehr und wir müssen alle verhungern!“

Hallo?

Deutschland versorgt sich selbst mit Lebensmitteln. Vergessen? (Nein, nicht mit Kiwis, aber darum geht es nicht im „Worst Case“. Niemand wird Hunger leiden. Nicht hier. Nicht zuhause.)

„Sofern sie nicht vorher im Bürgerkrieg zwischen Einheimischen, Ausländern und Asylanten erschossen werden!“

Die ganze Wahrheit über alles Leseprobe 7

Uups. Stimmt, das ist fies. All diese fiesen Menschen in der Nachbarschaft. Obwohl: Für Licht, Heizung, Essen und Trinken ist ja aus „Bordmitteln“ gesorgt, wir haben obendrein alle Dächer über den Köpfen, und Straßen und Autos und Züge und das Internet ... warum also sollten wir uns in diesem Ernstfall: gegenseitig erschießen? Würden wir nicht eher die plötzlich unheimlich viele Zeit, die uns zur Verfügung steht, nutzen, um was Neues auf die Beine zu stellen? Was smarteres als vorher?“

Vielleicht ist das die wichtigste kleine Wahrheit in der ganzen Wahrheit über alles: Das Warnschild auf dieser beeindruckenden Bombe ist ausgemachter Quatsch. Grober Bullshit. Ein Schreckgespenst aus dem Ramschregal, ausstaffiert allein von denen, die vom derzeitigen Zustand profitieren: den 10%, denen alles gehört, die profitieren vom für uns, die verbleibenden 90%, ungünstigen Stand der Dinge, und die euch gern verarschen. Weil sie wissen, dass es gerechter zugehen könnte. Und würde. Wenn wir – oder eben ihr – ihren Bluff durchschauen würdet.

Aber niemand (von euch) muss sich Sorgen machen, wenn das System zerbricht. Ihr habt alles. Euch kann nichts passieren. Ihr könnt die ganze Welt ändern. Mit einem neuen Start, einem neuen Anfang, einem „New Deal“. Denn es geht eben nicht alles kaputt. Kaputt geht es nur dann, und zwar garantiert, wenn ihr die Kabel NICHT rauszieht!

Die ganze Wahrheit über alles Leseprobe 8

Also: Die haben euch reingelegt! Augen auf. Kabel raus. Mit Teddy R. im Sinn. Die ganze wahrheit über alles.

Denn der (Roosevelt, genau, der mit dem ersten „New Deal“) fand in seiner kämpferischen Amtsantrittsrede im März 1933 die legendären Worte: „Wie haben nichts zu fürchten außer der Furcht selbst“. Und diese Teddy-Kampfansage galt nicht etwa Hitlers Nazis (die klaren Worte in deren Richtung folgten später), sondern den Typen, die kurz zuvor die ganze Welt förmlich an die Wand gefahren hatten, am schwarzen Freitag 1929; den gefährlichsten Feinden der Freiheit, der Demokratie, der Gerechtigkeit und des Weltfriedens: Bankern, Freihändlern und Börsenspekulanten.

Recht hat Teddy R. immer noch.

Also, wenn ihr uns fragt: das schreit nach „Ran an die Attrappe“. Denn es gibt einen anderen Weg. Ins Licht. Mit Licht rund um die Uhr. (Sowie, aller Voraussicht nach, sogar im worst worst case, Netzzugang und Bio-Sonntagsbraten).“

 

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