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Rette sich wer kann! – von Sven Böttcher
Rette sich wer kann!. „Habe ich Schmerzen? Natürlich. Immer wieder, immer öfter, ich werde älter. Diverse Schmerzen. Und wie stehe ich zu denen? Können die weg, alle? Und wenn ja, wie?
Es wird wohl niemand bestreiten, dass Schmerz unvermeidlich ist, solange man einen Körper, ein Herz und/oder eine Seele hat. Und Schmerzen wie Schmerzursachen gibt es wie Sand am Meer: vom Herzschmerz auf einer nach unten offenen Skala von »Klappe kaputt« bis »geisteskrank verliebt«; physisch von Kopf über Zahn bis Beinbruch; psychisch – oh, fangen wir doch besser gar nicht erst an.
Im zentnerschweren, jedermann zur Verfügung stehenden Schmerzkatalog befinden sich fraglos gewisse Spielarten, die man nicht aushalten möchte, kaum aushalten kann und nicht aushalten sollte: vom Rückenschmerz bei akut nach vorn gefallener Scheibe über die Zahnwurzelentzündung bis zum terminalen Krebs. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Schmerzen, die man durchaus aushalten kann – oder könnte.
Die man »durchstehen« kann oder könnte. (Oder muss, wie Eltern ganz frischer Kinder wissen, denn in solchen Fällen bleibt einem gar nichts anderes übrig, sofern man nicht eine Oma oder eine Nanny im Wandschrank hat, als jeden eigenen Schmerz waagerecht zu bewältigen, also den ganzen Schmerz hindurch zustehen.)
Aber was, wenn ich nicht muss? Warum sollte ich Schmerz ertragen? Aushalten, durchstehen, erdulden? Will ich mir das wirklich antun? Das ist doch nicht schön. Sicher nicht. Aber vielleicht ist es trotzdem sinnvoll, gelegentlich?
Rette sich wer kann! – Eine groteske Frage ?!
Schon die Frage an sich erscheint den meisten offenbar grotesk, denn die in Deutschland alljährlich verschriebenen und von den Kassen erstatteten sage und schreibe 677 Millionen Schmerzmittel-Tagesdosen verschwinden ja offenkundig nicht in einer Minderheit der Schmerzbetroffenen. 677 Millionen bedeuten 8,5 Tagesdosen pro Einwohner und Jahr – die bei unheilbaren Tumorerkrankungen verschriebenen Mittel sind hierbei nicht mitgezählt, die rezeptfrei nicht erstatteten ebenfalls nicht.
Höchstens am Rande interessiert uns hier, dass das rezeptfreie Allerweltschmerzmittel Dolormin sowohl in den Umsatzcharts (1 Milliarde Euro) als auch in den „Vergiftungscharts“ ganz vorn liegt, die inzwischen 250.000 Opiat- und Opiodabhängigen lassen wir mitfühlend links liegen, die drakonischen Zulassungsbedingungen für gewisse empörende Kräuter aus der »Apotheke Gottes« (Maria Treben) sowieso.
Wir wollen nur konstatieren: Die Zahlen scheinen leise darauf hinzudeuten, dass unsere Schmerztoleranz dank unserer chemischen Wunderabschaltwaffen ein klein bisschen nachgelassen hat. Rette sich wer kann!.
Wer das nicht nur schön, gut und praktisch findet, outet sich natürlich sofort als Fortschrittsgegner, Höhlenmensch und Schrat, aber der Hinweis sei dennoch gestattet, dass uns traditionell noch ein paar andere Schmerzmittel zur Verfügung standen, alle aus dem gleichen staubigen Regal.
Nicht dem Regal mit den rezeptfreien Chemikalien, sondern dem mit den Tugenden: von Mut über Demut bis Zähnezusammenbeißen, von Geduld über Nachsicht bis Selbstbeherrschung, anzuwenden mittels Liebe, Begeisterung, Pflichtgefühl oder dem ruhigen Wissen um die eigene endliche Position im Zeitstrom zwischen Eltern und eigenen Kindern.
Wir machen das aber anders, denn wir wollen nicht zurück in die Höhle. Wozu haben wir denn unsere Wissenschaft, unseren Erfindungsreichtum? Wir brauchen keine Tugenden, wir haben Chemie. Wir schalten den Schmerz ab, schnell – also Rette sich wer kann!.
Rette sich wer kann!. Diese Selbstbetäubung hat indes weit ernstere Folgen als die von Illich beschriebene, ohnehin schon ernste: »Die Abtötung des Schmerzes verwandelt die Menschen zunehmend in fühllose Zuschauer ihres eigenen verkümmernden Ichs.« Da wir gelernt haben, uns jeder Art von Schmerz zu entziehen, auch dem nur lästigen leichten Kopfweh am Morgen nach dem einen letzten schlechten Bier, nehmen wir aus Erfahrung und völlig unbewusst einen verheerenden Transfer vor:
Weil Schmerz vermeidbar ist, gerade der sehr präsente körperliche Schmerz, sehen wir schon lange nicht mehr ein, dass wir diffuse seelische Schmerzen haben und ertragen sollen.
Aus der allgegenwärtigen und jederzeit von uns erwirkbaren Betäubung unseres Körpers schlussfolgern wir, dass auch unser psychischer Schmerz eigentlich nicht von uns ertragen werden muss.
Daraus wiederum resultiert nicht nur die Abschaltung von Kummer (siehe unten) mittels Psychopharmaka, sondern eine zunehmend zu beobachtende generelle Veränderung unseres Mindsets, unserer generellen Lebens- und Erwartungshaltung. Wir haben es also beim Schmerzabschalten nicht nur mit der längst konstatierten Entfremdung von Körper und Seele zu tun, sondern mit der Ursache für eine grundlegend veränderte Ansicht das Leben betreffend.
Rette sich wer kann! – Wir müssen keine Schmerzen mehr ertragen
Wir haben gelernt, konkret, physisch: Wir müssen keinen Schmerz mehr ertragen. Wohlbefinden ist herstellbar und steht uns zu. Aber dieses Wissen übertragen wir intuitiv vom Körperlichen, Grobstofflichen, ins Feinstoffliche, in unser Fühlen. Wer so tickt, ohne es auch nur zu wissen, dem fällt ganz generell das klare Denken schwer.
Oder es fällt gleich ganz aus, denn Denken kann ja auch Kopfschmerzen verursachen, wie jede Anstrengung. Also lassen wir das doch lieber sein, denn wir wollen ja keinen Schmerz an uns heranlassen.
Schmerzbefreite verstehen tatsächlich auch die einfachsten Sachverhalte und Worte nicht mehr. Weder verstehen sie, dass ihre besonderen und persönlichem Wünsche (Glück, Freude, Lust, Genuss, Gesundheit, Luxusauto, All-inclusive-Urlaub) vollkommen banal und absolut nicht »persönlich« sind, weil sich das ja nun jeder wünscht – abgesehen von dem einen asozialen Buddhisten unter 10.000 –, noch verstehen sie, dass man sich Schmerzen aussetzen muss, will man zumindest eine Chance haben, diese Jedermannwunschziele zu erreichen.
Denn ganz gleich, ob man einen Platz im Vorstand will, einen Platz vorn auf der Bühne, eine steile Karriere oder eine gute Ehe, es erwarten einen auf dem Weg dorthin eben nicht nur Genuss und Freude, sondern gehörige Schmerzen: Rette sich wer kann!. Entbehrungen, Kummer, Frustrationen – und alles ohne jegliche Gewissheit, dass diese unsere schmerzhaften Anstrengungen uns dem angestrebten Ziel auch nur näherbringen werden.
Rette sich wer kann!. Die Schmerzen, die wir auf dieser Reise erleiden müssen, erfordern weit mehr als Dolormin, sie erfordern zuförderst die oben genannten staubigen Tugenden. Aber die sind überholt, wir haben ja andere Mittel. Und haben gelernt, dass wir nichts aushalten müssen. Weder Schmerzen noch Mühen.
So ist uns die Abschaltung des körperlichen Schmerzes auch mental nicht sonderlich gut bekommen. Wir halten ja nicht mal mehr steiniges Geläuf auf dem Weg zum Lebens- oder Karriereziel aus. Oder Streit in der Beziehung. Das tut doch alles weh, und das muss ja nicht sein. Also machen wir doch lieber etwas anderes: Wir weichen jedem Schmerz aus. Und so haben wie dank freien Zugriffs auf ein beträchtliches Arsenal an Betäubungsmitteln nicht nur verlernt, auf unsere Körper zu hören. Wir haben auch verlernt, mit Widerständen umzugehen und Krisen zu meistern.
Genau dies aber verursacht uns früher oder später ausgesprochen sonderbare, unerklärliche Schmerzen, die wir Kummer nennen könnten, aber bevorzugt Depressionen nennen, weil man mit Kummer nicht so viel verdienen kann.“ Rette sich wer kann!.
Weiterführende Literatur
Die Apotheker – Buch
Diagnose unheilbar
Weiterführende Webseiten