Leseprobe

Wer wenn nicht Bill/Wir?

Wer Wenn nicht Bill von Sven Böttcher 

Wer wenn nicht Bill : Sein ehrgeiziges Motto für 2020 hat Bill in einer schriftlichen Neujahrsbotschaft allen Menschen per Blog bekannt gegeben. Dieses Jahr sollte wichtig werden. Denn dieses Jahr geht es um den großen Schlag, den zu versuchen Freund Warren Buffett Bill von Anfang an geraten hatte:

Das Ziel, metaphorisch aus dem Baseballspiel entlehnt, ist ein Homerun, ein Schlag über die Platzbegrenzung, den Zaun, und um den diesmal hinzubekommen, kündigt Bill an, 2020 alles in diesen einen Schlag zu legen.

Im Wissen, dass man bei diesem riskanten Manöver natürlich den Ball ganz verfehlen kann, aber „schafft man es, den Ball voll zu treffen, winkt reicher Lohn“.

Und es geht bei diesem Schlag um alles. Darum, die Katastrophe zu verhindern, unseren Untergang abzuwenden. Bill hat erkannt, dass man hierbei nicht darauf bauen kann, dass Industrie und ganz normale Menschen sich plötzlich kollektiv selbst beherrschen. Dass sie das dringend Erforderliche tun, sich einsichtig zeigen, ihren Dauerwachstumsirrweg verlassen und global solidarisch werden.

Im reichen Norden auf ihre Autos verzichten, ihre üppige Wurstauswahl und ihre Renten. Und im verarmtem Süden – nach abgeschlossenem Studium – zu Hause bleiben und ihre eigenen Wüsten in blühende Landschaften verwandeln, statt schnurstracks auszuwandern und in den USA oder in Europa Karriere zu machen als Anwälte, Banker, Ärzte.

Bislang gibt es für eine derartige massenhafte Einkehr von Vernunft keinerlei Anzeichen. Im Gegenteil. Bill geht also davon aus, dass die Mehrzahl der Menschen bei diesem existenziell notwendigen Verhaltenswandel nicht mitmachen wird. Nicht freiwillig. Appelle an die Vernunft führen erkennbar, nachweislich, zu nichts.

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Wer wenn nicht Bill : Es muss aber sein. Wir müssen uns ändern. Sonst gehen wir alle drauf. Und das will Bill nicht. Wie wir alle. Im Unterschied zu jedem anderen von uns allen kann er uns aber vor uns selbst retten. Dazu bedarf es klarer Absprachen und Regeln.

Leitplanken und Einschränkungen. Freiheitsbeschränkungen. Kontrollen. Weitreichender Maßnahmen, um heranziehende zukünftige, wirklich gefährliche Pandemien im Keim ersticken zu können: „Ich denke, wir werden in den Jahren nach 2021 aus den Jahren nach 1945 lernen.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs schufen führende Politiker internationale Institutionen wie die UNO, um weitere Konflikte zu verhindern. Nach Covid-19 werden die Staats- und Regierungschefs Institutionen erarbeiten, um die nächste Pandemie zu verhindern.“

Bill formuliert wie stets charmant, die Erarbeitung von „Institutionen“ (Genaueres gleich) solle der Politik vorbehalten bleiben, wenngleich eben nicht Politiker sämtliche modernen Seewege beherrschen, also die Datenwege, sondern er und seine Freunde.

Spricht Bill von „Wir“ – „Wir werden 7 Milliarden Menschen impfen“ -, ist zwar nicht explizit benannt, wer „Wir“ ist (wir alle sind sicher nicht gemeint), aber sicher nicht gemeint als Teile des „Wir“ sind Politiker, wie Bill unterstreicht: „Man möchte nicht Politiker entscheiden lassen, welche Medikamente zugelassen werden sollten.“

Danke, Bill, für deine Offenheit und Entschlossenheit, wir (alle) sind deiner Ansicht, dass „Berufspolitiker“ keinen Beruf haben, dass einige von ihnen zwar hehre Ideen hegen mögen, von links bis rechts, aber bestenfalls nur eine Ahnung davon haben, wie die Welt tatsächlich zusammenhängt, wer die Welt lenkt und gestaltet.

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Wer wenn nicht Bill : Vielleicht glauben manche sogar, sie lebten in Demokratien. Es wäre nicht verwunderlich, denn sie repräsentieren ja tatsächlich ihre Volksgemeinschaften, und auch wenn in jenen ein deutlich höherer Anteil an Intelligenten zu vermuten ist als in der Politik, reichten den 90 Prozent beschränkten Vertretern ja 25 Prozent beschränkte Wahlberechtigte für jede absolute Mehrheit inkl. Grundgesetzänderungen nach Belieben.

Noch braucht Bill daher Politik und Politiker, und als guter Anführer gibt er Menschen ohnehin gern das Gefühl, gebraucht zu werden.

Bill ist aber nicht nur Menschenkenner und Geschäftsmann, er ist auch Programmierer und denkt folglich lösungsorientiert. Zwar weiß er, wie jeder des Lesens fähige Mensch, dass wir mit den auf unserer gemeinsamen Erde zur Verfügung stehenden Flächen und unserer Innovationskraft wohl auch 10 oder 12 Milliarden Menschen satt bekämen – aber das nur bei einem kollektiven Wandel im Sinne von „fairer Verteilung“.

Bill kennt unsere technischen Möglichkeiten. Aber er kennt auch unser Verhalten, denn das lässt sich aus Zahlen herauslesen, nicht aus Lippenbekenntnissen.

Auf Zahlen dürfte sich also seine Arbeitshypothese stützen, wir seien nicht besonders helle. Dafür spricht natürlich auch seine Erfahrung, dass er mit seinem so erbärmlich programmierten Windows und Word solchen ungeheuren Erfolg hatte gegen qualitativ weit überlegene Konkurrenten, aber jetzt geht es um mehr, jetzt geht es um alles. Jetzt bedeutet „nicht besonders helle“ nichts anderes als „gefährlich dumm“.

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Wer wenn nicht Bill : Den Beweis für seine These versucht er gerade weltweit zu führen, unterstützen lässt sich seine versuchte Beweisführung anhand ausgewählter Zahlen. (Dass ich im Folgenden vorwiegend deutsche Zahlen verwende, hat regionale Geburtstagsgründe, aus dem Ausland mitlesendes Publikum wird sicher häufig bemerken „Das können wir aber, bitte schön, auch!“; man nehme mir den dezenten biografisch bedingten Bias nicht übel.)

Tatsächlich ist Deutschland hier in mancher Hinsicht primus inter pares, nicht nur bei seiner weltweit einzigartigen monokausalen Erbsenzählerfixierung auf den sogenannten „Inzidenzwert“. Im internationalen Vergleich ragen die Deutschen in mancher Hinsicht heraus, insbesondere hinsichtlich ihrer tapferen, unverbrüchlichen Obrigkeitstreue.

Die Deutschen akzeptieren klaglos ihren Status als Bewohner eines Niedriglohnlandes, ein im europäischen Vergleich erbärmliches Rentenniveau, eine extrem niedrige Besitzquote an Wohneigentum und die weltweit höchsten Energiekosten für private Haushalte infolge einer missratenen Energiepolitik, die sie sich dann selbst auch noch als „Wende“ schönreden.

Aber auch in viel grundsätzlicherer Hinsicht ragen die Deutschen nach oben heraus als herausragend verwöhnt, herausragend ängstlich, herausragend sentimental und herausragend verlogen. Worte, Fernsehbilder und Zahlen legen davon beredt Zeugnis ab, nicht nur mittels geschönter Energiebilanzen der Jahr für Jahr mehr Kohle verfeuernden Windradaufsteller, die neben den Bewohnern der USA global den meisten Müll pro Kopf produzieren (und exportieren).

Die Deutschen sind aber nicht nur in dieser Hinsicht konsequent inkonsequent. Sie kaufen sich Stofftiere, um Knut und alle anderen Eisbären zu retten, und dann kaufen sie sich ein neues Auto.

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Wer wenn nicht Bill : Die Deutschen begrüßen alle Flüchtlinge am Bahnhof (mit Knut-Stofftieren) und schauen dann weg, wenn Frontex richtig loslegt. Die Deutschen schicken ihre Kinder Fridays for Future auf die Straße, buchen dann Fernreisen und kaufen Schiffsbeteiligungen sowie jedes Jahr ständig mehr SUVs. Kreuzfahrten gehen sowieso immer, mit Knutstofftier im Koffer. Bills deutsche 75-Prozent-Zielgruppe predigt besonders energisch Wasser und säuft Wein.

Bills deutsche Zielgruppe schaut Rezos Videos und wählt der CDU einen grün lackierten, neoliberal auf strammes Wachstum gerichteten Panzerarm als Regierungsjuniorpartner. Bills Zielgruppe will nicht denken, sondern an den Pool, all inclusive. Bills Zielgruppe will zwecks Selbstoptimierung, wahlweise Selbstverwirklichung, aufs Laufband oder morgens zum taufrischen Sonnengruß.

Und/Oder Spaß haben. Tanzen, saufen, vögeln, ansonsten aber, und auch das hebt sie aus der großen Völkergemeinschaft heraus, „nur das Übliche“: Eigenheim, alle zwei Jahre ein neues Auto, angeschafft mit staatlicher Schrottprämienhilfe, nie eine Arztrechnung sehen oder gar selbst bezahlen, Staatsschule und Uni für die Kleinen und Mittleren, staatsversicherten Rentenanspruch, und der Rest auch: Vollkasko.

Niemand ist so unselbstständig und zugleich verwöhnt wie wir. Niemand hat so viele Autobahnen, niemand so viele Intensivbetten. Aber wir „Exportweltmeister“ sind eben auch weltweit diejenigen, die am meisten zu verlieren haben.

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Wer wenn nicht Bill : Deshalb erscheint Deutschland als ideales Terrain, um zu testen, wie weit die Mehrheit der Bevölkerung im Angstfall mitgeht bei einer weitreichenden Abschaffung von Grundrechten und der Einführung von massiven Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen. Wer wenn nicht Bill.

Überdies erscheint Deutschland auch aufgrund historischer Indizien als bester Ort für die freiwillige Selbstkontrolle, schließlich sind hier im Lauf des vergangenen knappen Jahrhunderts gleich zwei verblüffend rigide Kontrollregimes erblüht, mit Leidenschaft vorangetrieben und erhalten von Millionen fleißiger und hochbegabter Denunzianten.

Diese Freude am Kontrollieren erstreckt sich folgenreich sogar hinein ins Unbekannte, bis an den Rand des Jenseits, denn wenn Corona klopft, wollen und werden wir jedes! Leben! retten! Auch das jedes hundertjährigen Polymorbiden. Die Geschichten, die uns von diesen uralten Verstorbenen erreichen, schockieren uns. Rühren uns zutiefst.

Das könnte auch uns passieren! Ja, sogar unsere so unbeschwerten, kerngesunden, eben noch kregel die Blumenbeete wendenden hundertjährigen Eltern könnten urplötzlich von Corona dahingerafft werden, herausgerissen aus unserem Leben in der Spätblüte ihres eigenen! Unser Mitgefühl bringt uns förmlich um. Gefühl ist gut. Verstand ist schlecht. Hart und gemein. Der Verstand soll auch draußen bleiben. Das darf nicht passieren! Unsere Lieben dürfen nicht sterben! Auch nicht mit neunzig oder hundert Jahren! Nie.

Dahinter steckt nun eine beileibe nicht exklusiv deutsche Lust am Kontrollieren, zugegeben. Die Weigerung, den Tod als unvermeidlich hinzunehmen, verbindet die Mehrzahl der Bewohner der ersten Welt; die Weigerung zu akzeptieren, dass alle, die wir lieben, sterben werden, dass wir selbst sterben werden und dass uns der Tod alltäglich droht.

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Wer wenn nicht Bill : Wir sprechen darüber nicht. Uns ist „zuletzt auch die Fähigkeit abhanden gekommen“, mit „irgendeiner realistischen Einstellung zum Tod zu sterben“, daher hat der Tod in unseren Leben keinen Platz. Den werden wir demnächst einfach besiegen. Es werden demnächst auch nicht mehr 3 von 4 Europäern und Amerikanern an Krebs sterben. Es werden auch nicht mehr 4 von 4 Europäern und Amerikanern an irgendwas sterben.

Sondern bestimmt gar keiner mehr. Auch diese echte, dauernde Todespandemie werden wir besiegen. Weil unsere Wissenschaftler ewig haltbare Zellen erfinden. Oder wir uns einfach alle in die Cloud hochladen. Google macht das schon. Und bis dahin optimieren wir uns halt selbst. Wir schaffen das. Wir blenden tatsächlich vollständig die Tatsache aus, dass wir alle sterblich sind. Und dass die Sterbensgefahr mit zunehmendem Alter exponentiell wächst. Dass wer auf die hundert zugeht, wahnsinnig gefährlich lebt.

Die „ultimative Erfüllung des zivilisatorischen Kontrollprogramms“ bleibt uns indes versagt („Noch! Wart’s nur ab!“) – aber wir kennen Mittel und Wege, uns unseren Triumph erfolgreich vorzutäuschen. Weniger ist hier mehr. Daher verbergen wir unsere Leichname. „Das Leben in der Großstadt wirkt so, als ob niemand mehr stürbe.“

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Wer wenn nicht Bill : Wir halten den Fetisch der Jugendlichkeit hoch bis ins höchste Alter, murmeln das Unvermeidliche unter den Tisch, verfrachten immer mehr Eltern (unschön von oben herab: Hochbetagte, Risikogruppen) in Heime und ignorieren en passant, dass zeitnah drei Vertreter der „Kindergeneration“ (15–64 Jahre alt) je einen Vertreter der „Elterngeneration“ werden betreuen müssen, aber schon heute zu wenige der Jüngeren dazu bereit sind.

Wer indes die Sinnhaftigkeit und Moral des vergeblich todesverachtenden Abschieben-und-Augen-Zu auch nur leise infrage stellt und gar eventuelle „Kollateralschäden“ zu bedenken gibt, wird umgehend niedergekeult als ausgemachter Nazi oder Euthanasiebefürworter. So klatscht man wirksam alle Kritiker an die Wand, hernach sich selbst noch ein bisschen selbstbegeisterten Applaus (die erschöpften Pfleger bekommen auf dem Nachhauseweg auch was ab), ruft dann allerdings parallel sofort nach Mutti respektive „dem Staat“.

Der die entstehenden Schäden begleichen soll. Alle. Von Kunst bis Kegel. Dass die hierzu erforderlichen Billionen-Kredite plus Zinseszinsen von den Kindern abbezahlt werden müssen, geschenkt, man/frau hat ja eh keine Kinder.“

 

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